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Respekt vor dieser Geschichte! – Nicht alle Menschen sind gleich

Nach fast fünf Jahren sind die Brüder Kefaet und Selami Prizreni wieder in Essen (Quelle: Dr. Christian Kahl)
Nach fast fünf Jahren sind die Brüder Kefaet und Selami Prizreni wieder in Essen (Quelle: Dr. Christian Kahl)

Zehn Polizisten holten nachts die beiden Brüder Kefaet und Selami Prizreni aus ihrer Wohnung in Essen. Ohne Vorwarnung wurden sie 2010 ins Kosovo abgeschoben. Sie sind Roma und hatten nur einen Duldungsstatus, obwohl der jüngere Selami sogar in Deutschland geboren wurde. Erst nach knapp fünf Jahren gelang ihnen die Rückkehr nach Deutschland, zu ihrer Familie.

Das Schicksal der beiden jungen Männer begleitete der Regisseur Sami Mustafa mit der Kamera. Nun wurde der Dokumentarfilm „Trapped By Law“ im Essener Filmstudio Glückauf gezeigt. Im Anschluss gab es eine Diskussionsrunde an der auch die beiden Protagonisten teilnahmen. Sie schilderten eindrucksvoll ihre Erlebnisse und Gefühle, aber auch was sie daraus gelernt haben und wie sie heute für Gerechtigkeit kämpfen.

Die Grünen-Politikerin Terry Reintke, Mitglied des Europäischen Parlaments, moderierte den Abend im gut besetzten Glückauf Filmstudio in Essen. Die Gäste erwartete zunächst der Dokumentarfilm „Trapped By Law“ und danach eine Diskussion. Diese bot Möglichkeiten einzelne Aspekte näher zu beleuchten und die Besucher konnten gezielt den beiden Protagonisten Fragen stellen. An der Diskussionsrunde nahmen neben Kefaet und Selami Prizreni auch Gönül Eğlence, Kreisvorsitzende der Grünen in Essen und Vorstandssprecherin von Bündnis 90/Die Grünen Essen sowie Merfin Demir, Co-Vorsitzender und Geschäftsführer von Terno Drom teil. Terno Drom ist eine Gruppe des Landesverbandes NRW der djo-Deutsche Jugend in Europa (djoNRW) und engagiert sich seit mehreren Jahren um Teilhabe jugendlicher Roma an der Gesellschaft.

Eindrucksvoll schilderte die Mutter ihre Erlebnisse mit den Behörden (Quelle: Dr. Christian Kahl)
Eindrucksvoll schilderte die Mutter ihre Erlebnisse mit den Behörden (Quelle: Dr. Christian Kahl)

„We thought, the system was reliable“

„Wir konnten nicht begreifen, was da am 17. März 2010 für uns begann“, ist Kefaet Prizreni noch immer fassungslos, wenn er zurückdenkt. Nachts kamen die Polizisten und nahmen die beiden Brüder wie Verbrecher mit. „Sie haben die Wohnung gestürmt, ich war noch im Halbschlaf, sie haben uns mitgenommen“, erinnert sich der ältere der beiden. Kefaet und Selami mussten sich ihre Schuhe zusammenknoten, damit sie nicht fliehen konnten. Die Eltern und ihr mittlerer Bruder Hikmet mussten dem Geschehen hilflos zusehen. Die beiden jungen Männer leisteten keinen Widerstand. Wozu auch? „Wir dachten, es sei ein Irrtum der Behörden“. Kefaet kam mit seinen Eltern 1988 in die Bundesrepublik. Damals war er vier Jahre alt. Der jüngere Bruder Selami ist in Deutschland geboren. Beide lebten mit ihren Familien als Asylbewerber in Essen. Über Jahre hatten sie den Status „geduldet“, Anträge auf die deutsche Staatsangehörigkeit blieben erfolglos. Die insgesamt drei Brüder besuchten in Essen die Schule, hatten hier ihre Freunde und Kefaet sogar zwei kleine Kinder.

„Auch als wir im Kosovo ankamen, haben wir uns noch keine großen Sorgen gemacht. Das muss ein Irrtum sein“, erklärt Kefaet. „We thought, the system was reliable“, sagen die Brüder zu Beginn des Films. Doch die mehrere Jahre dauernde Odyssee ließ sie an der Verlässlichkeit des Systems zweifeln.

Der Film „Trapped By Law“ zeigt die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, der die beiden Roma-Brüder während ihrer Zeit im Balkan ausgesetzt waren. Die Familie und Freunde waren in Deutschland, im Kosovo waren sie Fremde. Das Gefühl der Enttäuschung und Hilflosigkeit spürten die Besucher des Filmabends auch in der Diskussion. Unter den Gästen befanden sich die Eltern der Brüder. Sie schilderten ihre Erlebnisse und die Situation, als die Familie über einen langen Zeitraum getrennt war. Die Mutter beschrieb die Hürden, die seitens der Behörden immer wieder in den Weg gestellt wurden. Besonders als der in Deutschland geborene Selami mit 18 Jahren einen deutschen Pass beantragen wollte. Hier trafen sie die Willkür und Schikanen einzelner Sachbearbeiter, so dass Selami in Deutschland auch weiterhin nur „geduldet“ wurde. Die Familie verlor über Jahre das Vertrauen in den Rechtsstaat. Kefaet und Selami lässt das am Ende des Dokumentarfilms zu dem traurigen Schluss kommen, „The system gets criminal“.

Merfin Demir engagiert sich seit vielen Jahren für die Integration und Inklusion jugendlicher Roma (Quelle: Dr. Christian Kahl)
Merfin Demir engagiert sich seit vielen Jahren für die Integration und Inklusion jugendlicher Roma (Quelle: Dr. Christian Kahl)

Projekte gegen Vorurteile

Das Schicksal der beiden Prizreni-Brüder ist kein Einzelfall, wie Gönül Eğlence, Vorstandssprecherin von Bündnis 90/Die Grünen Essen, in der Diskussion feststellte. „Wir sind in unserem System so sehr damit beschäftigt, die Leute rauszuschmeißen, dass wir nicht die Möglichkeit erkennen wertvolle Mitglieder für die Gesellschaft dazu zu bekommen. Wir schauen zu oft nur darauf, wie wir die Leute wieder loswerden.“ Das Erschreckende für alle Diskussionsteilnehmer sei, dass bei dieser Abschiebepraxis der Aufschrei und die Empörung in der Gesellschaft ausbleibe. „Wir sehen strukturelle Züge des Antiziganismus in europäischen Staaten und Gesellschaften. Es gibt Vorurteile und Bilder, die manche Menschen mit Roma in Verbindung bringen“, schilderte Terry Reintke, Mitglied des Europäischen Parlaments und der Grünen ihren Eindruck.

Hier knüpfte Merfin Demir an. Er ist Co-Vorsitzender und Geschäftsführer von Terno Drom, einer Landesgruppe der djoNRW: „Wir wirken diesem Trend des Antiziganismus mit verschiedenen Projekten und offenen Angeboten entgegen.“ Als ein Beispiel nennt er das erfolgreiche Kooperationsprojekt „be young & roma“. Hier trafen Roma und nicht-Roma in verschiedenen Aktionen zusammen. „Es gab einfachere Angebote, wie Schlittschuhlaufen und Fußballspiele oder auch anspruchsvollere, wie der Besuch im Bundestag. Wichtig ist zunächst mal, dass man sich kennen lernt und offen aufeinander zugeht. Sehr erfolgreich war auch die Kooperation mit dem Lehmbruckmuseum in Duisburg“, erinnert sich Merfin. Unter dem Motto „Poesie trifft Kunst“ trugen Teilnehmer Gedichte in Romanes, Bulgarisch und Deutsch vor und bezogen sich dabei auf ausgewählte Werke der Sammlung des Lehmbruck Museums. „Es gibt viele verschiedene Ansätze, nur so können wir auch breite Gesellschaftsschichten erreichen und Vorurteile abbauen. Wir benötigen mehr Öffentlichkeit und teils auch öffentliche Unterstützung“, verdeutlicht Merfin Demir die Herausforderungen seiner Arbeit.

Obwohl Selami in Deutschland geboren wurde, bekommt er keine deutsche Staatsbürgerschaft (Quelle: Dr. Christian Kahl)
Obwohl Selami in Deutschland geboren wurde, bekommt er keine deutsche Staatsbürgerschaft (Quelle: Dr. Christian Kahl)

Sei keine Last mehr

Die stets neuen Enttäuschungen auf „legalem“ Weg zurück nach Deutschland zu kommen, zwangen Kefaet und Selami dazu, sich den großen Flüchtlingsströmen der Balkanroute anzuschließen. Seit 2014 sind sie wieder in Essen. In ihrer Flucht, die körperlich und seelisch das Äußerste verlangte, sahen sie ihren letzten Ausweg. Sie fühlten sich von den Behörden im Stich gelassen. „Ganz hart hat es uns getroffen, als wir das achte Visum gestellt hatten. Geplant war die Ausreise über Slowenien, also völlig legal. Doch dann hörten wir von der deutschen Botschaft erstmals, dass unsere Einreise in die Bundesrepublik für fünf Jahre verboten ist.“ Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Brüder bereits seit zwei Jahren auf dem Balkan. „Das war wieder so eine Tür, die zuging. Das hat uns den Boden unter den Füßen weggezogen“, erinnert sich Kefaet und wird nachdenklich: „Dann bist Du noch weniger wert. Versuch erst gar nicht irgendwas an deiner Situation zu ändern. Grab Dich selbst ein im Balkan. Es gibt keine Hilfe für Dich, sei keine Last mehr.“

Das Gefühl der Wertlosigkeit und vergessen zu sein, spürten die jungen Männer zunehmend und aus immer neuen Richtungen. „Wir haben aus der Ferne sogar ein Gerichtsverfahren in Deutschland zu unseren Gunsten gewonnen, aber es änderte sich nichts.“ Ein deutscher Richter hatte erklärt, dass die Abschiebung der beiden Prizreni-Brüder zu Unrecht erfolgt war. Trotzdem saßen sie weiterhin auf dem Balkan fest und hatten keine Chance zu ihren Familien und Freunden nach Deutschland zurückzukehren. „Egal wo Roma sind, sie sind verflucht mit dem, was sie sind!“, hörten die Gäste in Essen Kefaets Frustration.

In einem war sich die Diskussionsrunde einig: Es muss etwas geändert werden (Quelle: Dr. Christian Kahl)
In einem war sich die Diskussionsrunde einig: Es muss etwas geändert werden (Quelle: Dr. Christian Kahl)

Art. 3 GG: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich

Kefaet und Selami Prizreni leben heute wieder in Essen. Ihre Abschiebung und die erfolglosen Bemühungen um eine legale Rückkehr in die Heimat hat sie verändert. „Ich genieße es, wieder zu Hause zu sein. Die Resonanz, die ich jetzt bekomme, ist positiv. Von Freunden, Initiativen und auch der Stadt Essen“, beschreibt Selami seine Empfindungen. Doch noch immer leben beide unter dem Status „geduldet“. „Ich bin hier geboren und aufgewachsen, aber immer noch nicht anerkannt als Bürger von Deutschland, von Essen? Das ist meine Heimat!“, macht der jüngere Bruder deutlich.

Statt Verbitterung spüren die Besucher in Essen den Willen der Brüder etwas zu verändern. Denn so wie ihnen geht es vielen Roma in Deutschland. Aktuell befinden sich mehrere dutzend Roma am Berliner Mahnmal für die im Holocaust ermordeten Sinti und Roma. Sie kamen aus Hamburg, um hier gegen ihre drohende Abschiebung zu protestieren. Unter den Menschen befinden sich auch viele Kinder und Alte. Kefaet redet Klartext: „Jetzt ist Menschlichkeit gefragt. Deutschland hat das Grundgesetz, und ich feire das Grundgesetz ohne Ende! Ich habe nie gewusst, was im Grundgesetz steht, ich habe mich später damit befasst. Und jetzt kämpfe ich dafür, dass das was drin steht, befolgt wird. Nicht nur von den Deutschen sondern auch von den Menschen in meinen eigenen Reihen. Ich will ein gutes Beispiel sein“, lautet sein eindringlicher Appell an alle.

Die Jahre auf dem Balkan und das Gefühl der Heimatlosigkeit waren für die beiden Brüder schrecklich und prägten sie nachhaltig. Die Erlebnisse können sie nicht vergessen und sie ziehen ihre Konsequenzen: „Uns wurden die Augen geöffnet, unter schlimmen Bedingungen. Nun wo wir zurück sind, wollen wir was an dem System, an dieser Abschiebungspraxis ändern. Wir wollen die gesamte Bevölkerung wachrütteln. Mit unserer Kampagne wollen wir aktiv Stellung beziehen, an Schulen und in Infoabenden. Unsere Musik hilft uns dabei. Auf friedliche Art zeigen wir Missstände an und gehen dagegen vor.“

KAGE live on stage: Mit Musik die Welt verändern (Quelle: Dr. Christian Kahl)
KAGE live on stage: Mit Musik die Welt verändern (Quelle: Dr. Christian Kahl)

Musik drückt Gefühle aus und ist Protest

Ihre Kraft, um im Exil auf dem Balkan nicht komplett zu resignieren und aufzugeben, holten sich die Brüder nach eigener Aussage immer wieder aus der Musik. „Musik war schon immer ein wichtiger Teil in unserem Leben, in der ganzen Familie spielte sie eine große Rolle. Wir haben allerdings die Roma-Kultur in der traditionellen Musik mit Hip Hop vermischt“, erklärt Kefaet. Die Musik ist für die beiden jungen Männer ein Ventil, hier verarbeiten sie ihre Erfahrung und Emotionen. Gleich nach der Ankunft im Kosovo wollten sie an ihren musikalischen Projekten aus Deutschland anknüpfen. Voller Optimismus sei man gewesen, schließlich kläre sich bald alles auf und man könne wieder heim zur Familie, glaubten sie anfangs noch. „Wir wollten im Kosovo weiter unsere Musik machen und brachten unsere Ideen mit, das Beste, das Neuste, eben Roma 2.0“, erklärt Kefaet mit einem Schmunzeln. Doch die Realität sah anders aus. „Am Ende war die Musik der einzige Halt, den wir hatten. Suizidgedanken waren da. Wir waren für die Familie nur eine Last, die Musik wurde unsere Waffe zum Überleben.“ Und das ist sie noch heute. In ihren Songs sprechen Kefaet und Selami aus, was viele verschweigen. Für beide ist die Musik eine Therapie: „Wir sind gegen Wände gelaufen, die Musik hat uns die Kraft gegeben durch Wände zu laufen.“

Die Besucher im Essener Filmstudio Glückauf konnten sich von dieser Power live überzeugen. Nach der Diskussion rappten die Brüder, die unter dem Namen KAGE (K-Flow and Gipsy in Exil) auftreten, einige Stücke auf Deutsch und Englisch. Der Film „Trapped By Law“ zeigt ein wichtiges Kapitel im Leben von Kefaet und Selami Prizreni und ist mit ihrer Musik hinterlegt. Der Soundtrack zum Film erscheint demnächst auf CD.

 

Autor: Dr. Christian Kahl