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Vielfalt als Normalzustand? Diversität als Thema in der Jugendverbandsarbeit – Fachinterview mit Sarah Gräf

 

 

Unterschiede als bereicherndes Potenzial zu begreifen ist einer der Kerngedanken der Diversitäts-Debatte. Beim näheren Hinsehen stellt man schnell fest, dass der Ansatz selbst sehr facettenreich ist. Im Rahmen unseres Jahresmottos „djoNRW… einfach bunt! divers.jung.offen“ haben wir mit der Diversity-Trainerin Sarah Gräf ein Interview über die Themen Diversität und Vielfalt und die Umsetzung in der Jugendverbandsarbeit geführt.

Diversität als Normalzustand?

Das Thema Diversität ist ja gerade in aller Munde, vor allem in der Arbeitswelt, wie würdest du den Begriff Diversität mit Fokus auf die Jugendverbandsarbeit beschreiben?

Das Thema Diversität wird in der Arbeitswelt hauptsächlich als „Diversity Management“ verhandelt und ist letztlich darauf ausgerichtet, die Produktivität von Organisationen oder Teams zu steigern. In der Jugendverbandsarbeit wurde vor einigen Jahren noch mit dem Ansatz der „Interkulturellen Öffnung“ gearbeitet, wie auch in öffentlichen Institutionen und sozialen Diensten. Hier wurden bereits Fragen diskutiert, die wir heute unter dem Begriff Diversität behandeln würden. Also zum Beispiel: Wie „öffnen“ wir unseren Verband für junge Menschen, die bisher noch nichts von unseren Angeboten wissen oder sie aus verschiedenen Gründen nicht in Anspruch nehmen? Wenn wir diese Fragen weiterdenken, sind wir schnell beim Thema Zugangshürden und Diskriminierung. Aus meiner Sicht bringt die Auseinandersetzung mit Diversität nicht viel, wenn wir daraufhin unsere Maßnahmen und Angebote nicht diskriminierungskritisch durchleuchten. Es geht also in erster Linie nicht darum, dass uns Vielfalt bereichert, sondern darum, wie wir dafür sorgen können, dass unsere Angebote auch wirklich genutzt werden können. Und zwar unabhängig davon, ob ich auf zwei Füßen oder zwei Rädern unterwegs bin, wie mein Kontostand aussieht, wie ich aussehe und so weiter. – In den vergangenen Jahren haben sich außerdem viele Jugendverbände deutlicher politisch positioniert und beispielsweise Beschlüsse gegen Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit verfasst. Auch in diesen Kontexten wird Diversität thematisiert.  

In deiner Arbeit als Diversity-Trainerin, wie hast du dort schon erlebt, dass Diversität missverstanden wurde?

Oft wird davon ausgegangen, dass man Diversitätskonzepte einfach on top auf Maßnahmen und Angebote draufsetzen kann. Wir erweitern unsere Zielgruppe und dann wird alles schön bunt, vielfältig und harmonisch und wir haben alles richtiggemacht. Es ist natürlich eine super Ausgangslage, wenn Vielfalt als etwas Positives gesehen wird. Sie ist aber schon längst Realität und erst einmal einfach nur da. Die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Voraussetzungen, mit Ausgrenzung und Anerkennung verschiedener Lebensrealitäten kann unglaublich bereichernd sein, aber auch zu Konflikten führen, weil sie gesellschaftliche Ungleichheiten sichtbar macht. Dann stellen sich die Fragen: Sind wir als Jugendverband auch bereit dafür, diese (neuen) Diskussionen zu führen und ggf. unsere Strukturen, Traditionen und auch unsere Kommunikation zu überdenken? Wie gehen wir mit diesen Lernprozessen um, die eine Auseinandersetzung mit Diversität mit sich bringt?

Welche Spannungsfelder und Herausforderungen ergeben sich, wenn man einen diversitätsbewussten Umgang in einer pluralistischen Gesellschaft anstrebt?

Wir alle gehen auf unterschiedliche Art und Weise mit Komplexität um. Manchen Menschen fällt es leicht, sich in neuen Situationen zurechtzufinden, ihnen macht es Spaß, gewusst-Geglaubtes zu hinterfragen. Und andere fühlen sich verunsichert, ziehen sich vielleicht zurück. Auch in der Jugendverbandsarbeit muss ausgehandelt werden, wie mit Veränderungen umgegangen wird. Das war schon immer so, wird in letzter Zeit aber besonders sichtbar, da sich viele gesellschaftliche und politische Diskurse gerade um die Frage drehen, wie dominante mit nicht-dominanten Gruppen umgehen. Da geht es um Sichtbarkeit, politische und gesellschaftliche Repräsentation und Teilhabe. Aber auch um Grund- und Menschenrechte.

Eine weitere der vielen Herausforderungen: Auf Missstände aufmerksam zu machen und damit Gehör zu finden, ist nicht immer einfach. Uns fällt bestimmt allen eine Situation ein, in der wir etwas gesagt haben, obwohl wir wussten, dass die Diskussion nun unschön wird. Oder in der wir lieber nichts gesagt haben, obwohl wir eigentlich wollten. Oder in der wir aus eigener Betroffenheit nichts gesagt haben, was 1000 gute Gründe haben kann.

Wie kann man diesen Spannungsmomenten am besten begegnen?

In meinem Jugendverband kann ich Gelegenheiten und Räume schaffen, in denen wir über Herausforderungen diskutieren, uns austauschen und neue Kraft tanken können. Und ich kann aktiv auf von Diskriminierung betroffene Menschen in meinem Verband oder meiner Gruppe zugehen und fragen, welche Art von Unterstützung sie brauchen. Oft hilft der Austausch mit anderen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. In meinem persönlichen Umfeld kann ich zunächst mein eigenes Verhalten reflektieren. Ich kann beobachten, wie ich damit umgehe, wenn ich selbst auf diskriminierendes Verhalten hingewiesen werde. Oft stellt sich als erster Impuls eine Abwehrhaltung ein. „Das habe ich gar nicht so gemeint“, „Woanders ist es ja noch viel schlimmer“. Was passiert dann? Werde ich wütend? Fühle ich mich missverstanden? Im nächsten Schritt schaffe ich es vielleicht, einen Schritt zurückzutreten, zuzuhören und sicherzustellen, dass ich verstanden habe, was die andere Person mir oder der Gruppe sagen will.

Welche Besonderheiten ergeben sich in der Jugendverbandsarbeit und im Umgang mit Jugendlichen?

Jugendverbandsarbeit beruht auf Freiwilligkeit und Engagement. Das sind großartige Voraussetzungen, um an Themen zu arbeiten, die ein hohes Maß an Selbstreflexion erfordern. Außerdem sind sich Jugendliche über viele der Themen, die im Kontext Diversität diskutiert werden, sehr bewusst. Da muss ich als Mitdreißigerin nicht kommen und ihnen etwas über die Vielfalt der Gesellschaft erzählen. Meine Aufgabe ist es, auf blinde Flecken hinzuweisen und einen Raum zu schaffen, in dem sich ausgetauscht und zusammen weitergedacht werden kann. Ich bin immer wieder sehr beeindruckt davon, welche Themen – oft am Wochenende – in Workshops, Seminaren und Projekten bearbeitet werden. Dabei gibt es auch in der Jugendverbandsarbeit unterschiedliche Ausgangslagen: Manche Gruppen müssen sich mit Themen wie rassistischer Diskriminierung auseinandersetzen, weil sie in ihrem Alltag davon betroffen sind. Andere können sich aussuchen, ob sie sich damit befassen wollen, was ein häufig unbewusstes Privileg ist.

Welche Möglichkeiten bieten sich in der Jugendverbandsarbeit für das Thema Diversität zu sensibilisieren?

Jugendverbände können sich in ihrer täglichen Arbeit fragen, ob sie der Diversität ihrer Zielgruppe gerecht werden. Wer kann bei uns mitmachen, fühlt sich wohl und sicher? Und wo haben wir selbst noch blinde Flecken? In unserer Arbeit können wir dann Möglichkeiten für einen Perspektivwechsel schaffen. Beispiele dafür finden wir überall. Ganz aktuell: Während des Kontaktverbots wegen Corona macht es zum Beispiel einen großen Unterschied, ob ich alleine oder mit meiner Familie zusammenwohne, in einem Haus mit Garten, einer kleinen Mietswohnung oder einem Wohnheim. Ob ich die Nachrichten verstehen kann, einen Internetanschluss und Computer zur Verfügung habe, ich beim Lernen unterstützt werde und versorgt werde oder ob ich zu einer Risikogruppe gehöre. Durch Corona werden existierende Ungleichheiten noch einmal verstärkt. Hier können wir ansetzen, Fragen sammeln, zuhören, diskutieren. Und letztlich überlegen, was diese ungleichen Voraussetzungen für Folgen haben können. Dabei geht es nicht darum, dass wir uns schlecht fühlen, wenn es uns persönlich besser geht. Wenn wir uns aber für Ungleichheiten sensibilisieren und diese wahrnehmen, können wir Verantwortung übernehmen und Pläne schmieden, wie wir dagegen vorgehen können. Letztlich geht es um die Frage, wie wir zusammen leben wollen. Und da kann ich in meinem persönlichen Umfeld, meiner Gruppe oder meinem Jugendverband ansetzen und einen Unterschied machen.

Das Interview führte Katharina Mannel

 

 

Sarah Gräf ist Trainerin in der diskriminierungskritischen politischen Bildungsarbeit und ausgebildete Diversity-Trainerin. Sie war viele Jahre Referentin beim djo-Bundesverband und arbeitet zur Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Rat für Migration e.V. in Berlin